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  3. Corona: Thanksgiving droht zum Superspreader-Event zu werden

Wirtschaft Superspreader-Event

In den USA wird Thanksgiving zur großen Corona-Zerreißprobe

Bereits über über 250.000 Corona-Tote in den USA

Die Corona-Zahlen in den USA erreichen täglich neue Höchststände, aber der abgewählte Präsident Trump bleibt in Deckung. Nachfolger Joe Biden demonstriert dagegen Tatendrang, aber ihm sind die Hände gebunden.

Quelle: WELT/Steffen Schwarzkopf

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Keine Nation der Welt leidet so sehr unter dem Coronavirus wie die USA – und doch werden sich hier in wenigen Tagen Millionen Bürger zu Thanksgiving-Feiern treffen. Die Gesundheitsbehörde fordert die Amerikaner auf, ihre Buchungen zu stornieren.

Wie rasant sich das Coronavirus in Amerika ausbreitet, lässt sich so veranschaulichen: Wären die US-Bundesstaaten eigenständige Länder, dann belegten North Dakota, South Dakota, Wisconsin und Iowa weltweit die ersten vier Plätze. Nirgendwo verzeichneten die Behörden zuletzt – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – mehr neue Infektionen. Erst danach folgen Luxemburg, Tschechien und Belgien, die Spitzenreiter in Europa.

Amerikas Noch-Präsident Donald Trump verharmloste Corona oft, das Virus, sagte er immer wieder, werde „sehr bald auf wundersame Weise verschwinden“. Tatsächlich ist sein Land nun mitten in der dritten Welle. Derzeit stecken sich jeden Tag weit mehr als 150.000 Bürger an. Insgesamt gab es seit dem Beginn der Pandemie mehr als elf Millionen Infizierte und eine Viertelmillion Tote. Das klingt dramatisch – ist aber wohl erst der Anfang.

Denn am 26. November beginnt Thanksgiving, die Erntedankfeier, für viele Amerikaner das wichtigste Fest des Jahres, wichtiger noch als Weihnachten. In der letzten Woche des Monats sind die Flughäfen, Bahnhöfe und Highways normalerweise so voll wie zu keiner anderen Zeit. Die Menschen legen Tausende Meilen zurück, um Freunde und Verwandte zu sehen und den traditionellen Truthahn zu essen. Und wenig deutet darauf hin, dass es 2020 anders wird. Virologen warnen deshalb vor einer Katastrophe.

48 Millionen Bürger, prognostiziert die American Automobile Association, so etwas wie der deutsche ADAC, werden mit dem Auto zu den Feiern anreisen – das wären nur vier Prozent weniger als im vergangenen Jahr. Die Zahl der Fluggäste hingegen dürfte einbrechen. Die Transportation Security Administration, zuständig für die Sicherheit auf Amerikas Flughäfen, rechnet nur mit einem Viertel des üblichen Andrangs. Das entspräche allerdings immer noch sechs Millionen Passagieren. In den Zügen und Bussen des Landes werden rund 400.000 Reisende erwartet.

Corona-Kritiker verweisen auf George Orwell

Keine Nation leidet so sehr unter Corona wie Amerika – und doch wird sich hier in wenigen Tagen ein großer Teil der Bevölkerung zum Feiern treffen. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Krise kümmert das Virus Millionen Bürger offenbar nicht mehr. Trumps Regierung dürfte dazu beitragen. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Kayleigh McEnany, nannte Reisebeschränkungen „orwellianisch“.

Das ist ein in den USA gerade oft benutztes Adjektiv, das von dem Namen des Schriftstellers George Orwell abgeleitet ist. Dieser beschrieb kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen totalitären Überwachungsstaat im Jahr 1984. McEnany beschimpfte Kalifornien, New York und Oregon, wo verhältnismäßig strenge Corona-Regeln gelten, als solche Überwachungsstaaten.

Die Folgen der Sorglosigkeit dürfte das Land in wenigen Wochen spüren. Thanksgiving erweist sich womöglich als Zeitbombe. Die Zahl der Infektionen könnte noch schneller steigen – und das Gesundheitssystem an den Rand des Kollaps bringen. Schon jetzt fehlt es Amerikas Krankenhäusern an fast allem: Betten, Masken, Handschuhen, Personal.

„Wir sind alarmiert“, sagte Henry Walke von der US-Gesundheitsbehörde CDC in einer Telefonkonferenz mit Journalisten. Er verstehe, dass die Menschen ihre Familien sehen wollten – schließlich zähle Thanksgiving zu den wichtigsten amerikanischen Bräuchen. Aber gerade sei nicht die Zeit für Feste, schon gar nicht in geschlossenen Räumen, wie es viele Bürger wegen kühler Temperaturen planten. „Das Land“, meinte Walke, „tritt in eine neue, kritische Phase ein.“

Kanada ist ein abschreckendes Vorbild

Die CDC rät dringend von Reisen zu Thanksgiving ab und fordert die Amerikaner auf, ihre Buchungen zu stornieren – ein starker Kontrast zu den Versuchen der Trump-Regierung, Corona kleinzureden. „Was uns Sorgen macht“, sagte Walke, „ist nicht nur das Fliegen oder Zugfahren an sich.“ Das vielleicht größte Problem seien die Terminals. „Dort, wo Menschen anstehen müssen“, so Walke, „wird es besonders gefährlich.“

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Was nach Thanksgiving geschehen könnte, lässt sich im nördlichen Nachbarstaat der USA beobachten. Die Kanadier feiern das Fest immer etwas früher, am zweiten Montag im Oktober. Auch sie reisen kreuz und quer durch ihr Land, um Freunde und Verwandte zu treffen, auch sie servieren ihre Truthähne meist in geschlossenen Räumen. Wie also hat sich die Zahl der Infektionen in Kanada entwickelt?

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In der Woche vor dem Fest steckten sich täglich durchschnittlich 2200 Menschen an – nun sind es fast 5000. Dafür gebe es sicher mehrere Gründe, heißt es von der kanadischen Regierung. Aber Thanksgiving sei einer davon, und zwar ein bedeutender. Die Ämter hätten die Spur des Virus oft zu Familien zurückverfolgt, die in großem Kreis zusammengekommen seien.

Die Zahl der Fälle stieg in Kanada auch schon vor Thanksgiving. Aber danach breitete sich das Virus schneller aus – die Kurve wurde steiler. Und das, obwohl das Land in den vergangenen Wochen nicht häufiger testete als zuvor. Was den Kanadiern widerfuhr, müsste den Amerikanern eigentlich eine Warnung sein.

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