1. Startseite
  2. Meinung

Vergesst Libyen nicht

KommentareDrucken

Die Lage für Geflüchtete in Libyen ist immer noch drastisch.
Die Lage für Geflüchtete in Libyen ist immer noch drastisch. © AFP

Die internationale Gemeinschaft verhindert, dass Geflüchtete ihrem Elend in Libyen entkommen. Das ist untragbar. Der Gastbeitrag.

Covid-19 erreichte Libyen am 25. März 2020. Seit der Registrierung des ersten Falls verläuft die Pandemie in dem Bürgerkriegsland vergleichsweise moderat. Bis Mitte Juni stieg die Zahl der Fälle auf lediglich 418. Bislang führte sie auch noch nicht zu einem plötzlichen Anstieg der Sterblichkeit in den berüchtigten Internierungslagern des nordafrikanischen Landes, in denen viele Geflüchtete, Migranten und Asylsuchende unter schrecklichen Bedingungen auf unbestimmte Zeit festgehalten werden.

Dennoch lösten die indirekten Folgen der weltweiten Krise bei den Hunderten Menschen, die in den nominell von der Regierung in Tripolis kontrollierten Internierungslagern ausharren müssen, eine neue Welle der Verzweiflung aus. Libyen hat sich zu einem Sammelpunkt für Menschen aus Afrika auf der Flucht vor Krieg und Armut entwickelt. In Libyen mit sechs Millionen Einwohnern halten sich Schätzungen zufolge etwa 650 000 Geflüchtete und Migranten auf. Einige von ihnen sitzen dort fest, nachdem sie beim Versuch aufgegriffen wurden, das Mittelmeer zu überqueren.

Die Coronavirus-Pandemie hat die Programme der Vereinten Nationen (UN) zur freiwilligen Rückführung für eine längere Zeit zum Stillstand gebracht, auch wenn jüngst verkündet wurde, dass sie grundsätzlich wiederaufgenommen werden sollen. Doch trotz dieses kleinen Lichtblicks gibt es auch weiterhin nicht viel Hoffnung für den Großteil dieser Menschen, dem Kreislauf von Missbrauch und Gewalt in Libyen zu entkommen, in dem der Bürgerkrieg inzwischen seit mehr als fünf Jahren tobt.

Alle Abmachungen und Aufrufe zum Waffenstillstand, welcher auch eine angemessene Bereitschafts- und Reaktionsplanung hinsichtlich Covid-19 ermöglichen sollte, stießen bei den Kriegsparteien auf taube Ohren. Im Gegenteil: Mit massivem Beschuss sowie tödlichen Angriffen auf Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen bekämpften sie sich danach in und um Tripolis vorübergehend noch härter.

Sacha Petiot
Sacha Petiot © -

Mit frühzeitig umgesetzten Präventivmaßnahmen wie Ausgangssperren und Grenzschließungen gelang es weitgehend, die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Infolgedessen geriet jedoch die schwache Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs. In den Wochen nach Bekanntwerden der ersten Corona-Fälle wurden Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel knapp, die Preise stiegen deutlich.

Vonseiten des UN-Welternährungsprogramms gelangen aktuell keine Versorgungsgüter dorthin, was auf einer politischen Entscheidung beruht. Die UN wollen sich nicht in Widerspruch zu ihrer ablehnenden Haltung gegenüber willkürlichen Inhaftierungen begeben.

Diese Haltung spiegelt einen bei humanitären Akteuren allgemein vorherrschenden Trend wider. Auch Ärzte ohne Grenzen billigt nicht, dass Geflüchtete und Migranten eingesperrt werden. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass alle Bemühungen, dies zu ändern, derzeit ins Leere laufen. Umso wichtiger ist es, die Betroffenen in dieser schwierigen Lage nicht ihrem Schicksal zu überlassen.

Die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten und Migranten in Libyen – einschließlich derer, die während der letzten Monate aus den Internierungslagern freigelassen wurden oder ihnen entkommen konnten – lebt in größeren Städten. Auch die Lage dieser Menschen gestaltet sich prekär, weil sie wegen der Ausgangssperren in Folge der Pandemie nicht arbeiten können. Sie sind in ständiger Gefahr, ausgeraubt, entführt, misshandelt und um Lösegeld erpresst zu werden. Vielen bleibt keine andere Wahl als die Flucht über das Mittelmeer.

Ärzte ohne Grenzen erreicht aktuell eine noch nie da gewesene Menge von Hilferufen von Menschen, die nichts zu essen haben oder ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Außerdem schüren die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ihre Angst vor Festnahmen oder Entführungen. An den Rand gedrängt, bilden all diese Menschen eine Art Schattengesellschaft.

Internationale Organisationen unterstützen sie hauptsächlich mit einmalig zur Verfügung gestellten Hilfspaketen. Dabei ist es wegen der angespannten Sicherheitslage schwer, die Bedürftigen zu erreichen. Obwohl die Europäische Union (EU) seit Ende 2015 mehr als 500 Millionen Euro für migrationsbezogene Projekte in Libyen mobilisiert hat, ließen Diplomaten und UN-Vertreter schon vor der Pandemie verlauten, man könne wenig für die Genannten tun.

Diese Haltung steht für eine Politik mit dem Ziel, unerwünschte Geflüchtete und Migranten um jeden Preis von Europa fernzuhalten. Hier ist ein radikaler Wandel nötig. Dem Schutz dieser in Libyen eingeschlossenen Menschen muss auf internationaler Ebene absoluter Vorrang eingeräumt werden.

Sacha Petiot leitet die Libyen-Mission der internationalen Nothilfeorganisation Ärzte ohne Grenzen. 

Auch interessant

Kommentare