Moderne Frauen sind eine Kriegserklärung an das Regime

Die Moralpolizei hatte eine junge Frau wegen eines nicht korrekt getragenen Kopftuches verhaftet. Drei Tage später war sie tot. Weshalb die Sittenwächter in Iran gerade jetzt brutal zuschlagen.

Petra Ramsauer 6 min
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An einer vom Regime organisierten Demonstration fordern Frauen im Tschador die Exekution derjenigen, die sich gegen die Islamische Republik auflehnen. (Teheran, 23. September 2022)

An einer vom Regime organisierten Demonstration fordern Frauen im Tschador die Exekution derjenigen, die sich gegen die Islamische Republik auflehnen. (Teheran, 23. September 2022)

Vahid Salemi / AP / Keystone

Weisse Minibusse mit grünen Streifen: Wenn solche Fahrzeuge in den Strassen iranischer Städte auftauchen, stockt Passantinnen der Atem. Diese Farben kennzeichnen die Flotte der Gasht-e Ershad, der Moralpolizei. Diese Spezialeinheit sorgt dafür, dass die Bevölkerung den ultrakonservativen Sozial-Codex der Islamischen Republik befolgt. Sie geht dabei willkürlich und brutal vor. Insbesondere, wenn es um Kopftücher geht. Mahsa Amini dürfte ein kräftiger Schock in die Glieder gefahren sein, als sie am 13. September beim Verlassen der Metro in Teheran von diesem Trupp angehalten und verhaftet wurde. Der Vorwurf: Sie sei nicht richtig gekleidet.

Dieser Moment stellte eine tragische Weiche in ihrem Leben, aber auch für ihr Land. Sie überlebte diese Verhaftung nicht, starb eine Woche vor ihrem 23. Geburtstag. Dafür könnte dieser Moment die Geburtsstunde eines historischen Aufstandes der iranischen Frauen gegen das islamistische System sein, die seither zusammen mit Männern auf die Strasse gehen und Parolen wie «Freiheit und Tod dem Diktator» sowie «Wir sind alle Mahsa Amini!» skandieren.

Umerziehungszentren

Ihr kurzes Leben war typisch für das vieler junger Iranerinnen. In Begleitung ihres jüngeren Bruders war sie kurz in der Hauptstadt gewesen, um ihren Studienbeginn in Mikrobiologie in den nächsten Wochen zu organisieren. Sie stammt aus der Stadt Saqqez, dem mehrheitlich von Kurden bewohnten Nordwesten. «Sie hat einen schwarzen Mantel und ein Kopftuch getragen», beteuerte ihr Vater in einem Interview mit der BBC. «Mein Sohn flehte die Polizisten an, sie in Ruhe zu lassen.»

Doch der wurde verprügelt, dann pferchten die Moralpolizisten Mahsa Amini in eines dieser weiss-grünen Autos und brachten sie in eins der vielen Umerziehungszentren im Land. Dort werden die Frauen, die den Dresscode missachten, normalerweise für einige Stunden festgehalten und müssen sich Lektionen über die sozialen Regeln in der Islamischen Republik anhören. Manchmal trifft es auch Männer, deren Kleidung oder Verhalten das strenge Korsett sprengen. Danach müssen sie ein Dokument unterschreiben, Reue zeigen und Besserung schwören, und kommen wieder frei. Normalerweise.

Doch es kommt auch zu Szenen von Demütigungen und roher Gewalt. Mahsa Amini dürfte Opfer dieser Willkür geworden sein. Augenzeugen berichten, dass der jungen Frau dort mit einem Stock auf den Kopf geschlagen, sie mehrmals gegen eine Wand geschleudert wurde. Zwei Tage später lag sie bewusstlos und mit einem Kopfverband auf der Intensivstation der Kasra-Klinik in Teheran, wo sie drei Tage nach ihrer Verhaftung starb. Offizielle Todesursache: Herzversagen.

Bereits einen Tag nach ihrem Tod fanden vor der Klinik erste Kundgebungen statt. «Moralpolizei, Moralpolizei, ihr seid schuld», so die Sprechchöre. Bei Mahsa Aminis Beerdigung rissen sich die Frauen ihre Tücher vom Kopf und skandierten. «Du wirst nicht sterben. Dein Name wird Symbol.» Es war der Beginn einer Protestbewegung, die mittlerweile fast das ganze Land erfasst hat. Unerschrocken ziehen Frauen jeden Alters auf die Strasse, werfen ihre Kopftücher in lodernde Feuer. Mit offenen Haaren rufen sie: «Wir wollen eine Ende der Islamischen Republik.» Auch die 29-jährige Banafsheh aus der Stadt Behbahan geht auf die Strasse. Es gebe in Iran kaum eine Frau, die noch nie von der Moralpolizei gemassregelt wurde, erzählt sie. Auch sie selbst wurde bereits verhaftet, weil ihr Kopftuch nicht «ordentlich» gesessen habe und einmal sei sie bei einer Party erwischt worden. «Es geht jetzt aber um mehr, um die Freiheit von uns Frauen in Iran.» Dafür würde sie alles riskieren.

Mit Schlägertrupps, Wasserwerfern, Tränengas, Gummigeschossen und sogar scharfer Munition gehen die Sicherheitskräfte gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vor. Dutzende starben in der ersten Woche des Aufstandes. «Wir machen uns grosse Sorgen, dass diese Bewegung mit massiver Gewalt unterdrückt wird», sagt Skylar Thompson, von der iranischen Menschenrechts-Informationsagentur Hrana, die vom Ausland aus den Kontakt zu Irans Frauen hält: «Diese Protestbewegung ist allerdings einzigartig und wahrscheinlich schwer zu brechen, da sie wie keine zuvor alle Schichten erfasst.»

Lange aufgestaute Wut entlädt sich hier. Zwei Drittel der 86 Millionen Menschen in Iran sind jünger als 30 Jahre, vor allem junge Frauen sind so gut ausgebildet wie nie zuvor. 1979, als die Islamische Revolution ausgerufen wurde, hatten 60 Prozent der Iranerinnen keine formale Ausbildung. Heute dagegen sind 60 Prozent der Studienanfänger Frauen. Die Kluft zwischen den Werten der jungen Bevölkerung und den ultrakonservativen Normen des Landes lässt sich nur noch mit Gewalt kitten. Moderne Frauen sind eine Kriegserklärung an das System der ultrareligiösen Gerontokratie.

Raisis Plan

Aber genau auf sie hat es der vor einem Jahr gewählte ultrakonservative Präsident Ebrahim Raisi abgesehen. Mit einer Politik der Re-Islamisierung bringt er sich für die Nachfolge des greisen und schwerkranken spirituellen Führers Ali Khamenei in Stellung. Mitte Juli rief er den «Kopftuch-Tag» aus, seither greift die Moralpolizei härter ein. Dokumentiert ist dies in zahlreichen Videos auf Social Media, die die brutale Gewalt und Willkür der Sittenwächter gegenüber Frauen zeigen. Am 15. August wurden zudem neue Verschärfungen bekanntgegeben. Seither wird mit Überwachungskameras das Tragen eines Kopftuches im öffentlichen Raum kontrolliert. Auch drohen Haftstrafen für alle Iraner, die sich über soziale Netzwerke gegen das Verhüllungsgebot aussprechen. Der massive Einsatz der Sittenpolizei ist die zentrale Säule von Raisis Plan, die Gesellschaft wieder zu islamisieren.

Zur Person

Präsident mit Ambitionen

Präsident mit Ambitionen

Irans Präsident Ebrahim Raisi gilt als ultrakonservativ. Ihm wird nachgesagt, die Nachfolge des geistigen Führers des Landes, Ali Khamenei, übernehmen zu wollen. Dieser ist schwer krank.

«Die Verschleierung von Frauen wurde bereits kurz nach der Gründung der Islamischen Republik direkt von Chomeini verfügt. Sie ist Teil der DNA dieses Regimes», erklärt der Politologe Saeid Golkar. 1983 wurden die ersten Gesetze verabschiedet: Seither kann eine Frau, die ihre Haare in der Öffentlichkeit zeigt, mit bis zu 74 Peitschenhieben bestraft werden. Heute kann diese um eine Haftstrafe von sechzig Tagen ergänzt werden.

Golkar hat an der Universität Teheran gelehrt und forscht nun im US-Exil über die religiösen Milizen in Iran. Eine Moralpolizei, wie sie derzeit agiert, habe es in den Anfängen der Islamischen Republik nicht gegeben, sagt er. «In dieser Zeit sorgten die Basij-Milizionäre, ein Freiwilligenheer, das als Fundament des Regimes gilt, für die Durchsetzung der Kleidervorschriften.» Erst 2005, unter Präsident Mahmoud Ahmadinejad wurde die Moralpolizei als formale Einheit der Sicherheitskräfte mit eigenem Budget und Aufgaben etabliert. 2009 wurden ihre Macht gestärkt und ihre Budgets erhöht. «Heute werden sie zwar formal vom Innenministerium trainiert, finanziert und rekrutiert, de facto unterstehen sie aber direkt der Kontrolle des spirituellen Führers», so Golkar.

Selbst dem Wissenschafter ist es trotz jahrelanger Forschungsarbeit nicht gelungen, die Stärke dieser Sittenpolizei einzuschätzen. «Es dürften etwa 10 000 eigens für diese Tätigkeit ausgebildete Männer und vor allem Frauen sein.» Oft werden sie frisch von der Polizeiakademie rekrutiert. Auf den Strassen tauchen die männlichen Einheiten in olivgrünen Polizeiuniformen auf, Moralpolizistinnen sind im schwarzen Tschador gekleidet. Bei Einsätzen sind sie in gemischten Teams unterwegs. Die BBC veröffentlichte diese Woche ein Interview mit einem Mitglied der Moralpolizei, das sich anonym äusserte. Der Offizier erklärte, es sei wie bei einer Jagd. Sechsergruppen, vier Männer und zwei Frauen, seien in belebten Strassenzügen unterwegs. Wenn man nicht genug Missetäter finde, würde man vom Vorgesetzten kritisiert.

Die Sittenwächter erhielten 2019 mehr Macht, nachdem Massenproteste im Land niedergeschlagen worden waren. Seither verfügt die Sittenpolizei über «Umerziehungszentren» in den Grossstädten. Seit dem Tod von Mahsa Amini ist die Sittenpolizei allerdings unter Druck. Selbst prominente Vertreter des Regimes wagen offene Kritik. Etwa Ex-Aussenminister Javad Zarif: «Für meinen Teil bin ich beschämt und traurig», wird er von iranischen Medien zitiert. Und gleich, ob die jetzigen Proteste erneut niedergeschlagen werden oder nicht, für Golkar steht fest: Das Regime verliert den Rückhalt in der Bevölkerung. «Ich stamme aus einer kleinen, sehr konservativen Stadt im Zentrum Irans, wo Revolutionsführer Khomeini geboren wurde. Sogar dort bröckelt der Wille, sich dieser sozialen Kontrolle zu unterwerfen.»

NZZ am Sonntag, International

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